top of page
Suche
  • AutorenbildDr. Albrecht Gundermann

Israels Verfassungskrise erklärt: Ben Gurion ist an Allem schuld!

Aktualisiert: 17. Juli 2023


Jede Woche strömen immer noch Tausende Israelis auf die Straßen, um gegen die Verfassungsreform der Nethanyahu Regierung zu demonstrieren. Der Premierminister hat die Verabschiedung zwar nun ausgesetzt. Aber niemand vertraut ihm noch. Was passiert, wenn der Gesetzgebungsprozess auf einmal wieder aufgenommen wird? Wie kam es zu dem Gesetzesentwurf, der die Rechte des Obersten Gerichtes beschränkt und das Wahlverfahren der Richter dramatisch verändert? Um die Debatte zu verstehen, lohnt es sich einen Blick auf die Zeit der Staatsgründung Israels zu werfen. Geschah vielleicht damals schon der Geburtsfehler:


Der kleine, untersetzte Mann mit der weißen Mähne fuhr sich erst mit beiden Händen durch den wilden Haarschopf und griff dann entschlossen zum Füllfederhalter. Bevor er den Brief unterzeichnete, hielt er inne. Hatte Chaim Weitzmann vielleicht Recht? Ging er zu weit in seinem Pragmatismus? Oder schmiedete er gar einen Pakt mit dem Teufel, wie es Pinchas Rosen ihm an den Kopf geworfen hatte, wenn er dieses Schreiben unterzeichnete,? Chaim Cohn meinte sogar, er öffne das Tor für die Angst der Diaspora zum stolzen neuen Staat Israel, sollte er den Ultraorthodoxen zu viele Rechte gewähren. Seine Juristen hatten also gemeckert. Rosen, Absolvent der Universität Freiburg, hatte bei Jellinek promiviert. Er war ein feiner Mann mit guten Manieren. Aber heute hatte er ihm beim Abschied voller Wut die Tür vor der Nase zugeknallt. Chaim Cohn, der hochgewachsene junge Mann aus Hamburg, hatte mit erhobenem Zeigefinger auf ihn – den kleinen Mann - runtergeschaut und mit rotem Kopf Tiraden ausgestoßen. Er mochte ihn. Der hatte keine Angst. Mit dem Cohn werden wir noch was erleben, freute er sich. Überhaupt mochte er seine Jeckes, die deutschen Juden. Der neue jüdische Staat würde sie brauchen. Sie waren so klug. Aber sie waren nicht so schlau wie er.


Die Hitze an diesem 19. Juni 1947 in Tel Aviv war kaum zu ertragen. Sein Hemd war durchnässt, obwohl er nur am Schreibtisch saß und sich kaum bewegte. Für ihn war es stolzer Schweiß. Denn er gehörte hier hin. Nicht in das Polen seiner Geburt. Nicht in das Istanbul seines Studiums. Hier, ins alte jüdische Stammland, gehörte er hin. Wenn es nach ihm ginge, wäre er noch am gleichen Tag in die Negev Wüste gen Süden gezogen. So viel gab es zu tun. Auch dort mussten Genossenschaften gegründet werden, das Land kultiviert werden, eine Gesellschaft geschaffen werden. Nichts hätte ihn aufgehalten. Nicht die Sonne, nicht die Trockenheit, nicht der Mangel und auch nicht die Beduinen. So lange waren die Juden am Rande der Gesellschaften ihrer Heimatländer gewesen. Nur die Schaffung eines eigenen jüdischen Staates konnte sie aus diesem Dilemma befreien. Die Shoah hatte endgültige Klarheit geschaffen. Und das konnte nur dort geschehen, wo ein jüdischer Staat schon vor 2000 Jahren bestanden hatte. Hier, im britischen Mandatsgebiet Palästina, das Jahrhunderte unter osmanischer Herrschaft gestanden hatte. Wo einst die Königreiche Judäa und Israel herrschten. Und ihm oblag die Führung, Herzls Traum vom “Judenstaat“ in die Realität umzusetzen. Sie brauchten seine Stärke. Einer musste voranmarschieren.


Er ahnte, was auf dem Weg dahin vor ihm lag. Weitzmann arbeitete an einem Beschluss der neu gegründeten Vereinten Nationen, der die Schaffung eines jüdischen Staates und die Aufteilung des Mandatsgebiets mit den Arabern vorsah. Sollte Weitzmann dieser Geniestreich gelingen, wäre der Weg frei. Kein Zweifel bestand, dass die Araber dies nicht hinnehmen würden. Krieg war absehbar. Erst recht, wenn es keinen Beschluss gebe und die Briten blieben. Eigentlich waren sie längst im Krieg. Spätestens seit dem Pogrom von Hebron 1929 oder den Unruhen von 1936. Oder, seit die Radikalen um Begin und Shamir arabische Dörfer wie Deir Jassin auslöschten. Die Araber waren in der Mehrzahl. Auch hatten sie die Unterstützung all der umliegenden arabischen Länder. Die Juden waren in der Minderheit. Aber sie hatten einen großen Vorteil: Ihnen blieb nichts anderes mehr übrig, als zu gewinnen. Sie standen mit dem Rücken zur Wand. Oder besser gesagt: Zum Meer. Und genau dort wollten die Araber sie reinwerfen.


Was es jetzt brauchte in diesem anschwellen Konflikt, war die Einheit des jüdischen Volkes. Selbst die eigenartigen Religiösen wurden gebraucht. Wir können uns nicht leisten, auf sie zu verzichten, ging ihm durch den Kopf. Er verachtete sie, diese blassen Gestalten in ihren eigenartigen Gewändern, die ihre Nasen nur in alte Bücher steckten und sich nicht wehrten, als die Katastrophe über sie einbrach. Das konnte nicht die Zukunft sein. Aus diesem Schlamassel mussten sie raus. Juden mussten stark sein, muskulös und von der Sonne gegerbt das Land ihrer Vorverfahren bestellen. Seid keine Jeschiwa Boker mehr, sondern werdet Bauern, Soldaten und Arbeiter. Sie sollten keine Angst mehr haben.


Noch einmal lehnte er sich zurück und blickte nach oben. Er dachte an sein altes Leben in Plonsk, wo er so viele Orthodoxe jeden Schabbat in der Synagoge gesehen hatte; einige davon mit ihm verwandt. Nur wenige überlebten die Hölle. So sehr er ihre Lebensweise ablehnte, tief in ihm spürte er eine tiefe Verbundenheit mit ihnen. Sie gehören auch zu uns, sagte ihm eine innere Stimme. Sie kamen ihm schwach vor. Auf keinen Fall dürften sie diesen neuen Staat gestalten. Sollte er sie klein halten und seinen Prinzipien treu bleiben, wie Rosen und Cohn es wollten?


Ach was, ging durch seinen Kopf, diese Juristen und feinen Herren. Alles Bedenkenträger. Wir werden das jüdische Volk einen und den ersten jüdischen Staat schaffen seit Titus Jerusalem niederbrannte. Dann haben wir Zeit und können eine Verfassung verabschieden und lösen die Probleme. Man kann nicht alles sofort lösen. Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Und Jerusalem ist größer als Rom. Jetzt geht es um die nationale Einheit. Um nicht weniger als das Überleben des Judentums; das Überleben der Überlebenden. So viele Religiöse waren es auch gar nicht. Damit würden sie schon fertig werden.


Gleich würde Teddy Kollek bei ihm erscheinen und ihn über den Stand der Waffenlieferungen aus der Tschechoslowakei unterrichten. Der saß wahrscheinlich schon vor der Tür und wollte ihm ungeduldig erzählen, was Masaryks Leute gesagt hatte. Er hatte keine Zeit mehr, um noch einmal zu grübeln. Der Brief musste raus. David Ben Gurion unterschrieb. Er unterschrieb den Brief an die Agudat Israel, die Ultraorthoxen mit ihren schwarzen Kaftanen aus dem Polen des 18 Jahrhunderts, in dem er ihnen die Bewahrung des religiösen Status quo versprach. Er rief seine Sekretärin Lisa, damit sie den Brief mitnahm. Sofort. Ben Gurion wollte ihn nicht mehr in seinem Büro haben. Ihm war nicht wohl bei dem Thema.


Kollek stand schon vor der Tür und betrat das Büro. 15 Minuten später war Ben Gurions Laune wieder gut. Er war in seinem Element, wenn er über den Aufbau der jüdischen Streitkräfte sprechen konnte. Kollek hatte viel erreicht. Die Tschechen würden liefern. Endlich konnte er Hoffnung schöpfen für den anstehenden Kampf. Währenddessen faltete Lisa Shvetz den Brief sorgsam und steckte ihn in einem Umschlag, adressiert an die Agudat Israel. Ein Kurier brachte ihn dort hin.


Hat es sich so zugetragen? Man weiß es nicht. Tatsache ist, dass der sogenannte „religiöse Status quo“ in Israel durch ein Schreiben David Ben Gurions an die Agudat Israel am 19. Juni 1947 geregelt wurde. Diese heute noch geltende Regelung unterschrieb er nicht als Premierminister Israels, denn der Staat existierte noch nicht. Seine Unterschrift leistete er als Leiter der vorstaatlichen Jewish Agency und band damit den späteren Staat Israel bis in die heutige Zeit. Trotz dieses unklaren juristischen Charakters fühlen sich bis heute alle israelischen Institutionen an dieses Abkommen gebunden.


In dem Schreiben gab Ben Gurion eine Garantie ab für den Sabbat als Ruhetag, koscheres Essen in staatlichen Institutionen sowie die Erhaltung der religiösen Rechtsprechung in allen Angelegenheiten des persönlichen Status. Außerdem wurden dem religiösen Schulsystem Autonomie zugesichert und die ultraorthodoxen jungen Männer vom Militärdienst befreit, wenn sie in einer religiösen Jeschiwa das Studium der Thora und des Talmuds betrieben. Hiermit war bereits der Rahmen für das Verhältnis zwischen dem zu gründenden Staat Israel und dem religiösen Judentum gesetzt.


Auf der anderen Seite erklärte Ben Gurion aber auch, dass nicht die Gründung eines theokratischen Staates beabsichtigt sei. Die nichtjüdischen Einwohner – Christen und Moslems – sollten volle Gleichheit mit den jüdischen Einwohnern genießen. Ihre Glaubens- und Gewissensfreiheit sollte garantiert werden.

Nicht alle diese Punkte sind problematisch. Die Garantie eines religiösen Schulsystems aber neben den staatlichen Schulen könnte heute Israel das Genick brechen. Warum? Ganz einfach: Wegen der Demographie und wegen des religiösen Eifers. Vor allem die Araber und noch mehr die Orthodoxen haben große Familien. Die Kinder des Landes in die Hände eines fundamentalistischen und den Staat letztendlich ablehnenden Schulwesens zu geben, kann nicht ohne Konsequenzen bleiben. Das wird vor allem klar, wenn man sich die folgende Tabelle anschaut, in der die Erosion der staatstragenden Wählerschichten über die Jahrzehnte gezeigt wird:



Diese Graphik erinnert fatal an die historische Entwicklung in der Weimarer Republik:



Hagen Schulze: „Weimar“ aus der Reihe „Die Deutschen und ihre Nation“


Anders als Ben Gurion es erwartet hatte, vertagte der junge Staat Israel nach seiner Gründung wichtige Entscheidungen über seinen Charakter, insbesondere die Regelung des Konfliktes zwischen „jüdisch“ und „demokratisch“. Während dieser Debatte änderte Ben Gurion selbst seine Position. Aber der Reihe nach. Zunächst einmal schienen sich die kühnsten Träume zu erfüllen. Am 29.11.47 beschlossen die Vereinten Nationen überraschend die Resolution zur Aufteilung des britischen Mandatsgebietes Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat. Die Juden tanzten vor Freude auf den Straßen, die Araber waren entsetzt. Die Resolution sah für beide Staaten die Verabschiedung einer Verfassung vor. Man kann aus ihrem Wortlaut sogar den Auftrag der Schaffung eines Verfassungsgerichts mit der Zuständigkeit der Normenkontrolle herauslesen, also dem Recht parlamentarische Gesetze als verfassungswidrig zu erklären, wenn sie gegen die Verfassung verstoßen. Was für ein visionärer Text! Denn bis heute hat kein arabischer Staat eine solche Verfassungsgerichtsbarkeit.


Einen Tag vor dem Abzug der britischen Streitkräfte, am 14.05.48 erklärte der jüdische Staat Israel seine Unabhängigkeit. Am Tag darauf begann der Krieg mit den Arabern. Die wichtigsten Sätze der Unabhängigkeitserklärung lauten:


„...Wir beschließen, dass vom Augenblick der Beendigung des Mandats, heute um Mitternacht, dem sechsten Tage des Monats Ijar 5708, dem 15. Mai 1948, bis zur Amtsübernahme durch verfassungsgemäß zu bestimmende Staatsbehörden, doch nicht später als bis zum 1. Oktober 1948, der Nationalrat als provisorischer Staatsrat und dessen ausführendes Organ, der Volksrat, als zeitweilige Regierung des jüdischen Staates wirken sollen. Der Name des Staates lautet Israel. Der Staat Israel wird der jüdischen Einwanderung und der Sammlung der Juden im Exil offenstehen. Er wird sich der Entwicklung des Landes zum Wohle aller seiner Bewohner widmen. Er wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestützt sein. Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen. Er wird Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Sprache, Erziehung und Kultur gewährleisten, die Heiligen Stätten unter seinen Schutz nehmen und den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen treu bleiben...“


Schon hier zeigte sich der Konflikt. Während die säkularen Gewerkschaftsmitglieder im provisorischen Staatsrat die Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung ablehnten, sollte sich eine Bezugnahme auf Gott im Text finden, konnten sich die streng Religiösen gar nichts anderes vorstellen. Schließlich einigte man sich auf die Formulierung „Zur Israel“ im letzten Absatz, denn so wird Gott an einigen Stellen der hebräischen Fassung der Thora genannt. In der deutschen oder englischen Übersetzung der Unabhängigkeitserklärung ergibt diese Formulierung keinen Sinn, denn diese spricht vom „Felsen Israels“. In deutschen Bibelübersetzungen wird vom „Allmächtigen“ gesprochen.Unstrittig hingegen: Auch die Unabhängigkeitserklärung sah die Verabschiedung einer Verfassung für den neuen Staat vor.


Am 25. Januar 1949 kam es schließlich zur Wahl der ersten Knesset, des israelischen Parlaments. Doch diese Knesset war nicht nur Parlament, sie war auch zugleich verfassunggebende Versammlung des jungen Staates Israel. Sie trug also zwei Hüte, wie einst auch die Weimarer Nationalversammlung, den des Gesetzgebers und den des Verfassungsgebers. Bald nach der Konstituierung der Knesset stellte sich heraus, dass nicht nur Ben Gurion seine Meinung geändert hatte, sondern maßgebliche Minderheiten überhaupt gegen die Verabschiedung einer Verfassung waren. Die religiösen Parteien wollten sich keinem weltlichen Gesetz unterordnen. Andere wollten den vielen jüdischen Einwanderern aus aller Welt, die erwartet wurden, aber noch nicht angekommen waren, die Gelegenheit zur Mitsprache geben. Dritte wiederum fühlten sich nach britischen Mandatszeit oder aufgrund eigener Verbundenheit zur britischen Denkart dem Gedanken der „Vormacht des Parlaments“ („supremacy of parliament“) verpflichtet. Entscheidend aber war Ben Gurions kollektivistische Grundüberzeugung. Die Juden der frühen Einwanderungswellen hatten große Opfer gebracht und ihre Individualinteressen der Gründung des jüdischen Staates und der Entwicklung einer besseren Gesellschaft untergeordnet, als sie sie aus ihren größtenteils osteuropäischen Heimatländern kannten. Vorrangig war der Aufbau eigener jüdischer Strukturen im Rahmen des Mandatsvertrages. Hieraus sollten eines Tages die Institutionen eines jüdischen Staates erwachsen. Individualinteressen mußten zurückstehen, wollte man diese Ziele erreichen. Vielleicht ist es Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet Nethanyahus Vorbild, der damalige Likudvorsitzende Menachem Begin, für eine Verfassung plädierte. Er wollte einen effektiven Grundrechtsschutz erreichen und die Herrschaft der linksorientierten Parlamentsmehrheit begrenzen.


So beschloss die Knesset am 13. Juni 1950 die „Harari-Resolution“. Wonach die verfassunggebende Gewalt auf alle weiteren Knessets übertragen wurde mit dem Ziel, einzelne Kapitel einer Verfassung als „Grundgesetze“ Stück für Stück zu verabschieden. Wie dieser Prozess eines Tages beendet werden sollte wurde genauso bewusst offengelassen wie die Frage, was alles geregelt werden soll. Zwischen 1959 und 1992 wurden einige staatsorganisatorische Grundgesetze verabschiedet. 1992 schließlich ein Grundrechtskatalog. Bis heute ist dieses Verfahren der Verfassungsgebung nicht beendet. Denn das Verhältnis der Gewalten zueinander und damit die wichtige Frage nach der Rolle der Judikative bleibt ungeregelt.


Der parlamentarische Rat der Bundesrepublik Deutschland schuf ungefähr zur gleichen Zeit zwischen dem 01.09.1948 und dem 08.05.1949 in 8 Monaten das deutsche Grundgesetz. In den USA hatte einst der Verfassungskonvent 1787 nur 4 Monate benötigt, um die US-amerikanische Verfassung zu entwerfen. Die verfassunggebende Versammlung Israels hingegen tagt seit 74 Jahren; eine Dauer die beispiellos ist. Wobei man sich fragen muss, ob die Mitglieder dieser verfassunggebenden Versammlung sich immer bewusst waren über ihre doppelte Kompetenz als Parlament und verfassunggebende Versammlung.


Der Oberste Gerichtshof Israels hat in all den Jahrzehnten nach Staatsgründung in zahllosen Entscheidungen den „ungeschriebenen Grundrechtskatalog“ entwickelt und u.a. mit Berufung auf die Unabhängigkeitserklärung Israels Gesetze im Lichte der dort postulierten Grundrechte ausgelegt. 1969 wurde im Bergman-Urteil zum ersten Mal ein Gesetz aufgrund Verstoßes gegen ein staatsorganisatorisches Grundgesetz als verfassungswidrig erklärt (Normenkontrolle). Und schließlich nach Verabschiedung des Grundrechtskataloges 1995 ein Gesetz aufgrund Verstoßes gegen die verfassungsgemäßen Grundrechte im Bank Hamizrachi-Urteil für ungültig erklärt. Immer wieder hat der OGH auf diese Art korrigierend eingegriffen und seine Rolle zum Schutz des Einzelnen wahrgenommen. Dadurch wurde das Gericht insbesondere zur Zielscheibe der Ultraorthodoxen und der sehr weit rechtsstehenden politischen Kräfte, die aufgrund ihrer wiederkehrenden Rolle als „Zünglein an der Waage“ manche Forderung gesetzlich durchsetzen konnten, die anschließend vom OGH wieder kassiert wurden.


Und genau diese politischen Kräfte haben nur auf eine politische Konstellation gewartet, die ihnen erlaubt das etablierte israelische Verfassungssystem so zu ändern, dass sie freie Hand gewinnen. Nethanyahu hat ihnen den Weg geebnet. Er braucht sie zur Mehrheitsbeschaffung. Und er braucht das Amt des Premierministers, um weiter Immunität zu genießen. Nicht wenige Beobachter würden ihn andernfalls im Gefängnis sehen.


Was sieht nun Nethanyahus Reform vor? Im Wesentlichen sind es zwei Elemente, die die Rechtsstaatlichkeit Israel zutiefst erschüttern würden:


· Die Normenkontrolle würde abgeschafft werden bzw. könnte vom Gesetz überstimmt werden. Der langjährige Präsident des Obersten Gerichtshofs, Aharon Barak, sieht hierin den Weg zur „Tyrannei der Mehrheit“. Aufgrund der besonderen Gemengelage des Staates mit seinen verschiedenen Minderheiten ein bedrohliches Szenario.

· Die Wahl der Richter soll zukünftig durch das Parlament bestimmt werden. Das klingt zunächst einmal harmlos, aber die Knesset ist nicht der Deutsche Bundestag. Dort geht es sehr viel wilder zu und radikale Kräfte haben schneller Zugriff. Bisher und seit Staatsgründung werden die Richter durch einen Ausschuß gewählt, in dem die Berufsträger eine Mehrheit gegenüber den Politikern haben. Das hat sich für den Staat Israel auf eindrucksvolle Art und Weise in den letzten Jahrzehnten bewährt.


Ben Gurions Zusage an die Ultraorthodoxie aus dem Jahr 1947, den „religiösen Status quo“ nicht anzutasten, schuf vor Jahrzehnten die Grundlage für die jetzigen Verwerfungen. Natürlich ist Ben Gurion nicht allein schuld an diesem Dilemma: Schuld sind auch Naftali Bennett und Jair Lapid, die das Wunder einer säkularen Regierung noch in 2021/22 nicht nutzten. Levi Eschkol und Moshe Dayan, die Sieger im Sechs-Tage-Krieg sind schuld, Golda Meir ist schuld, Menachem Begin ist schuld, Josef Burg ist schuld, Yitzhak Rabin ist schuld. All diese großen Köpfe haben die Gelegenheit verpasst, die womöglich nicht wiederkommen wird: Den israelischen Rechtsstaat und seine Judikative zu schützen.


Sollte Nethanyahus Reform durchkommen, endet die israelische Demokratie, wie wir sie kennen und wie sie von den Gründern geschaffen worden ist. Man kann nur hoffen, dass die Demonstranten und Aktivisten auf den Straßen Israels dies noch verhindern können. Groß ist die Hoffnung nicht. Aber vielleicht kommt Israel damit im Nahen Osten endlich an?


Hier noch ein paar Lesehinweise zum Thema:

· Grandioser Artikel über ein Interview mit dem ehemaligen Präsidenten des OGH, Prof. Aharon Barak: https://www.timesofisrael.com/ex-top-judge-barak-put-me-before-a-firing-squad-if-itll-stop-move-to-tyranny/

· Moshe Zimmermann gibt in der Zeit eine lesenswerte historische Perspektive auf die Entwicklung: https://www.zeit.de/2023/19/israel-verfasssung-knesset-parlament-grundgesetze?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F

· Albrecht Gundermann „Die Rolle des Obersten Gerichtshofs bei der Entwicklung der israelischen Verfassung“ – das Buch ist zu gut und mein Ego zu groß, um es hier unerwähnt zu lassen.

120 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
Post: Blog2_Post
bottom of page